Gemeindebrief

Gemeindebrief der Ev. Kirchengemeinden Nachbarschaft Bad Kreuznach Land 3 „Vor 500 Jahren…“ Für einen würdigen Einstieg in viele Sitzun- gen kirchengemeindlicher Gremien halte ich die so genannte `Biblische Besinnung´. Ein Text – er muss nicht aus der Bibel stammen – wird verlesen und regt zu Gedanken über den Glauben an, bevor anschließend die eigentli- che Arbeit beginnt. Es ist der 9. März 2022. Heute treffen sich die Mitglieder der Redaktion unseres neuen Gemeindebriefes. Es gilt, Beiträge für die zweite Ausgabe zu sammeln, die nun für meh- rere Kirchengemeinden der Nachbarschaft ge- meinsam gestaltet wird. Herr Pfarrer i.R. Stiehl liest einen Abschnitt einer Predigt vor, die genau an diesem Tag, heute vor bereits 500 Jahren, gehalten wurde! Ab dem 9. März des Jahres 1522 nämlich, dem Sonntag Invokavit, predigt Martin Luther in Wittenberg an acht aufeinander folgenden Tagen. Das Ende seines langen Aufenthaltes auf der Wartburg liegt erst wenige Tage zu- rück. Aus der ersten dieser, in der Öffentlichkeit gehaltenen und als „Invokavit-Predigten“ be- kannten, Texte stammt also die heutige Besin- nung. Die Zeit – eine völlig andere, auch die Spra- che wirkt heute etwas fremd. Inhaltlich bemer- kenswert aber sind sicherlich die Gedanken, die Luther seinerzeit zum Ausdruck bringt. Wer sich auf den Text einlassen möchte und sich an der Sprache und an der Schreib- weise nicht stört, wird vermutlich auf Äußerun- gen stoßen, die man auch heute noch als durchaus aktuell ansehen kann… Text: Georg Arns […] Allhie, lieben Freunde, muß nicht ein je- dermann tun, was er recht hat, sondern se- hen, was seinem Bruder nützlich und förder- lich ist, wie Paulus sagt: „Omnia mihi licent, sed non omnia expediunt“, alle Ding mögen mir wohltun, aber alle Ding sind nicht förder- lich. Denn wir sind nicht alle gleich stark im Glauben, denn etliche unter euch haben ein stärkeren Glauben denn ich. Darum müssen wir nicht auf uns oder unser Vermögen sehen und ansehen, sondern unsers Nächsten, denn Gott durch Mose gesprochen hat: „Ich hab dich getragen und aufgezogen, wie eine Mutter ihrem Kind tut.“ Was tut die Mutter ihrem Kin- de? Zum ersten gibt sie ihm Milch, darnach ein Brei, dar- nach Eier und weiche Speis; wo sie es zum ersten wendete und harte Speis gäbe, würde aus dem Kinde nichts Guts. Also sollen wir auch tun unserm Bruder, Geduld mit ihm tragen ein Zeitlang und seine Schwachheit dulden und helfen tragen, ihm auch Milchspeis geben, wie uns geschehen ist, bis er auch stark werde, und nicht allein gen Himmel fahren, sondern unsre Brüder, die jetzt nicht unsre Freund sind, mitbringen. Sollten alle Mütter ihre Kinder wegwerfen, wo wären wir geblieben? Lieber Bruder, hast du genug gesogen, schneid ja nicht also bald den Dutten ab, sondern laß dein Bruder auch saugen, wie du gesogen hast. Ich hätte es nicht so weit getrieben, als es geschehen ist, wär ich allhie gewesen. Die Sach ist wohl gut, aber das Eilen ist zu schnell, denn auf jener Seite sind auch noch Brüder und Schwestern, die zu uns geboren sind, die müssen auch noch herzu. Merk ein Gleichnis: die Sonn hat zwei Ding, als: den Glanz und die Hitze. Es ist kein König al- so stark, der den Glanz der Sonnen biegen oder lenken möge, sondern bleibt an seiner Stelle geörtert. Aber die Hitz läßt sich lenken und biegen und ist allweg um die Sonne. Also der Glaub muß allzeit rein unbeweglich in unsern Herzen bleiben, und wir müssen nicht davon weichen, sondern die Liebe beugt und lenkt sich, daß sie unser Nächster begreifen und folgen mag. Es sind etliche, die könnten wohl rennen, etlich wohl laufen, etlich kaum kriechen. Da- rum müssen wir nicht unser Vermögen, son- dern unsers Bruders betrachten, auf daß der Schwache im Glauben, so er dem Starken fol- gen wollt, nicht vom Teufel zerrissen werde. […] Quelle: Martin-Luther: Ausgewählte Werke, 4. Band, Hg. von H.H. Borcherdt und Georg Merz. 3. Auflage, München 1964, S. 34-35 Auszug aus der ersten Predigt von Martin Luther (09.03.1522)

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